Was bedeutet es, als Jüdin, als Jude in Deutschland zu leben? Was kennzeichnet jüdisches Leben in Deutschland 80 Jahre nach der Shoa?
Es sind Fragen, die im Zusammenhang stehen mit beunruhigen Zahlen, wie jüdisches Lebens wieder unter Druck steht: Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Niedersachsen dokumentierte im Jahr 2024 insgesamt 650 antisemitische Vorfälle, also einen Anstieg um 86 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Zu den gemeldeten Vorfällen zählen unter anderem Angriffe, Bedrohungen und Sachbeschädigungen. Wie in anderen Teilen Deutschlands stieg auch in Niedersachsen nach dem 7. Oktober 2023 die Zahl der Vorfälle deutlich an und erreichte in 2024 einen Höchststand mit 650 gemeldeten Fällen. RIAS geht zudem von einer hohen Dunkelziffer aus – viele Betroffene melden Erlebnisse aus Angst oder mangelndem Vertrauen nicht.
Die Einbecker Freimaurerloge „Georg zu den drei Säulen“ hat deshalb das Gespräch mit der liberalen Jüdischen Gemeinde gesucht. Deren Vorsitzende, Jaqueline Juergenliemk, stand 14 Besucherinnen und Besuchern aus Einbeck in einem sehr freundlichen, offenen und heiteren Gespräch zur Verfügung, beantwortete Fragen und führt ihre Gäste in den Synagoge (die in den 1990er Jahren von Bodenfelde nach Göttingen überführt werden konnte).
Die Gemeinde in der Göttinger Innenstadt muss man finden wollen. Eindrucksvoll ist der liebevoll gepflegte Garten hinter der Synagoge, das Gemeindehaus ist von den Gemeindemitgliedern Zug um Zug hergerichtet worden. Die Gemeinde atmet immer noch Aufbauarbeit, denn mit der Auslöschung des jüdischen Lebens während der Nazi-Diktatur gab es nach 1945 kaum noch Anknüpfungspunkte. Arthur Levy, der Göttinger Oberbürgermeister, und viele Einzelne aus dem akademischen Milieu sorgten für einen Neubeginn, der durch den Zuzug jüdischer Neubürger ab den 1980er Jahren verstetigt wurde.
Der 7. Oktober 2023, die Geiselnahme jüdischer Menschen und der Gaza-Krieg haben die Situation drastisch verändert: Anfeindungen, die Zuschreibung, für den von der israelischen Regierung in Gaza geführten Krieg mitverantwortlich zu sein, Bedrohungen gehören zum Alltag der Gemeinde. Die Polizei muss Schutz spenden. Mit all‘ dem will ein Umgang gefunden sein, der das friedlichen Leben zulässt und Austausch mit anderen, auch Angehörigen anderer Religionen, ermöglicht.
Die Gemeinde achtet auf ihre Angehörigen, die eher älter sind. Auch sie kämpft um junge Gemeindemitglieder. Sie ist offen für Gäste, die sich interessiert zeigen, zu verstehen, wie Jüdinnen und Juden heute leben. Ein Besuch eines Gottesdienstes ist, abgesehen von den hohen jüdischen Feiertagen, auf Einladung möglich.
Für die Einbecker Freimaurer war es ein aufschlussreicher Abend. Nachwirkungen unterschiedlicher Art sind nicht ausgeschlossen, eine gemeinsame Veranstaltung in Einbeck scheint nach diesem Gespräch jedenfalls denkbar.